
OUT OF
THE BOX
Atelierfotografien aus der Sammlung Harald Mante

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Atelierfotografien aus der Sammlung Harald Mante
Das Museum für Kunst und Kulturgeschichte hat 2022 einen Teil seiner fotografischen Sammlung aufgearbeitet. Erstmals gibt es nun Einblicke in den Mitte der 1980er Jahre erworbenen fotografischen Sammlungsbestand des Fotografen und Sammlers Harald Mante.
Out of the Box. Atelierfotografien aus der Sammlung Harald Mante widmet sich einem fast vergessenen fotografischen Phänomen: der Kabinettkarte — ein normiertes Bildformat, das insbesondere in der Porträtfotografie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überaus beliebt war. Die Online- Ausstellung lädt ein, in dieses Bildmedium, seine Formensprache und seinen Bildgebrauch einzutauchen. Sie bieten Einblick in den Zeitgeist der Porträtfotografie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
Die fotografische Sammlung Harald Mante
Die fotografische Sammlung von Harald Mante umfasst über 10.000 fotografische Objekte der ersten 100 Jahre Fotografiegeschichte. Die Sammlung spiegelt das Interesse des Fotografen Harald Mante an angewandter Fotografie sowie den materiellen Präsentationsweisen des Fotografischen.
In der Sammlung befinden sich rund 2.500 Kabinettkarten — vorwiegend historische Porträtfotografien. Die Karten haben ihren Ursprung in 40 Ländern, aller Kontinente. Sie bilden einen Großteil des fotografischen Spektrums der Zeit ab: Porträt-, Architektur-, Tier-, Sach- und Landschaftsaufnahmen. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf dem Porträt.

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Das fotografische Porträt
im 19. Jahrhundert
Ein fotografisches Porträt zu erzeugen ist aus unserer heutigen Bildkultur nicht mehr wegzudenken und so einfach wie noch nie. Ein Druck auf den Auslöser einer Kamera oder das Display eines Smartphones reicht aus, um sich die eigene physische Präsenz in der Welt zu vergegenwärtigen. Doch das war nicht immer so.
Normierte Bildgrößen, handliches Format, preisgünstige Fotografien: Diese Bilder verbreiteten sich weltweit.
Frauenporträt, Auty Ltd., Tynemouth, England, um 1880, Kabinettkarte © Jürgen Spiler
Was ist eine
Kabinettkarte?
Die Kabinettkarte ist eine auf Karton geklebte Fotografie, die vor allem im Bereich der frühen Porträtfotografie beliebt war. Es handelt sich um ein normiertes Bildformat von etwa 16,5 × 11,5 cm. Von 1866 bis um 1920 war sie das übliche Produkt in Fotograf:innenateliers. Daneben gab es weitere sogenannte Fotokarten — wie den berühmten Vorgänger, die carte-de-visite .
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- Datierung: um 1860—1920
- Maße: ca. 16,5 × 11,5 cm
- Material: Papier, Karton
- Technik: Albuminpapierabzug auf Karton, geklebt
Exkurs: Fotografische Materialien und Techniken
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Der Albuminpapierabzug war im 19. Jahrhundert ein verbreitetes Verfahren zur Herstellung fotografischer Drucke. Louis Désiré Blanquart-Evrard entdeckte das Verfahren 1850. Dabei liegt das Bild in einer Schicht direkt auf der Oberfläche des Papiers und nicht in seinen Fasern. Das Papier wird mit Albumin (Eiweiß) überzogen und erhält dadurch seine glänzende Oberfläche. Anschließend wird es mit einer Silbernitratlösung sensibilisiert, um dann zusammen mit dem Fotonegativ (zumeist Kollodium auf Glas) belichtet. Die Bilder des Albuminpapierabzugs zeichnen sich durch ihren Detailreichtum aus. Das Verfahren verdrängte Positivverfahren wie die Daguerreotypie, da nun unzählige Abzüge von einer Negativplatte hergestellt werden konnten.
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Die Daguerreotypie war im 19. Jahrhundert das erste fotografische Verfahren, das kommerziell genutzt wurde. Das fotografische Bild wird hierbei auf einer spiegelglattpolierten Metalloberfläche fixiert. Die Besonderheit ist, dass sie von Anfang an gut nuancierte und fein strukturierte Bilder lieferte, die sogar mit der Lupe betrachtet noch kleinste Details zeigen.
Belichtungszeit:
Bis 1840: 15—30 Minuten
Ab 1840: 25—90 Sekunden
Ab 1842: 10—60 Sekunden -
Kollodium ist eine zähflüssige Lösung aus Nitrosezellulose in einer Mischung aus Alkohol und Ether. Mit einer Lösung aus Silbernitrat wird es in der Fotoindustrie genutzt, um Fotoplatten lichtempfindlich zu machen. Kollodium wird wegen seiner leimartigen Beschaffenheit auch in der Medizin genutzt, um kleine Wunden zu verschließen.
Ein Porträt von sich anfertigen zu lassen, war vor der Entdeckung fotografischer Verfahren nur privilegierten Gesellschaftsschichten möglich, die sich eine:n Maler:in leisten konnten. Auch in den ersten Jahren der Fotografie war es zunächst noch kostspielig, die neuen naturgetreuen Bildnisse seiner selbst anfertigen zu lassen.
Fotografie als Massenartikel
In der Geschichte der Fotografie gibt es zahlreiche Phasen, die sich anhand technischer Entwicklungen und verschiedener Herstellungsverfahren der Bilder unterscheiden lassen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden viele neue Verfahren eingeführt. Die sich verändernde fotografische Praxis beeinflusste auch den Inhalt der Bilder und Umgang mit ihnen.
Königin Viktoria, André Adolphe-Eugène Disderi, Carte-de-visite, um 1866 © Jürgen Spiler
Technische Errungenschaften wie das nasse Kollodium-Verfahren oder Mehrfachoptiken an Kameras ermöglichten seit den 1850er Jahren, von einem Glasnegativ gleich mehrere Abzüge anzufertigen. Dadurch wurde das Fotografieren schneller, preiswerter und sogar die Qualität war besser als bei den zuvor beliebten und als Unikat geschätzten Daguerreotypien .
Beginn einer neuen Ära: der fotografische Abzug
Durch den technischen Fortschritt konnten Fotografien schneller und preiswerter hergestellt werden. Das machte sich auch André Adolphe- Eugène Disdéri zu eigen. Er wollte eine Möglichkeit finden, die Fotografie günstiger und für eine breite Käufer:innenschicht zugänglich zu machen. Um 1851 entwickelte er mit der carte-de-visite ein normiertes Bildformat, das die Fotografie revolutionierte. Dies war der Beginn der Kartomanie .
„Disdéri kreierte eine Manie, die ... die ganze Welt ergriff, ... denn er gab uns viel mehr für viel weniger.“
Nadar (französischer Fotograf, Karikaturist, Schriftsteller), um 1900
Die günstige, kleinformatige Visitenkarte mit einem fotografischen Porträt wurde zur Modeerscheinung und trug wesentlich zur Verbreitung der Fotografie als Massenware bei. Es entstand eine ganze Fotokarten-Industrie, die es ermöglichte, ein günstiges Porträt von sich herstellen zu lassen. Schnell wurde der Markt mit Tausenden billigen Porträts regelrecht überschwemmt.
Aus der carte-de-visite entwickelten sich neben der Kabinettkarte weitere normierte, jedoch weniger bekannte Formate wie Victoria, Promenade, Boudoir und Imperial. Diese Bilder wurden zu Tausenden hergestellt und vervielfältigt.
ab 1858
63 × 102 mm
ab 1870
83 × 122 mm
ab 1866
105 × 165 mm
ab 1875
108 × 210 mm
ab 1875
134 × 215 mm
ab 1875
175 × 250 mm
Um 1866 löste die in England entwickelte Kabinettkarte die carte-de-visite weitestgehend ab, da ihr größeres Format eine bessere Sichtbarkeit der Motive gewährleistete.
Mit den normierten Fotokarten erlebte die Fotografie in Bezug auf Formen, Qualität und Preis eine rasante Entwicklung hin zur Massenware. Nach der Jahrhundertwende verloren die Fotokarten jedoch an Popularität und waren wegen besserer Papiere, Aufnahme- und Entwicklungstechniken bis zum Ende des Ersten Weltkriegs weitgehend vom Markt verschwunden.
Momente der Fotografiegeschichte

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Vom Sammeln
und Tauschen
Vom Sammeln
und Tauschen
Die neuen erschwinglichen Formate verdrängten ältere Formen der Porträtfotografie, die nur im Unikat herstellbar waren, weitgehend vom Markt. Mit dem Aufkommen der kleinen Bildkarten änderte sich auch der Verwendungszweck von Fotografien.
Die Sammelleidenschaft bricht aus: Das Sammeln und Tauschen von Porträtkarten wird gesellschaftliche Praxis.
Besonders beliebt waren die Bildnisse berühmter Persönlichkeiten. Sie bildeten die Mehrzahl der populären Fotokarten und waren geschätzte Sammel- und Tauschobjekte. Diese Bilder wurden zu Tausenden hergestellt und verkauft. Sie hatten meist einen eher geringen künstlerischen Anspruch.
Für kleines Geld konnte sich jede:r eine Sammlung mit Porträts von z. B. Aristokrat:innen, Politiker:innen oder Künstler:innen anlegen.
Fun Fact
Mit den Bildern Prominenter ließ sich leicht Geld verdienen und so wurde auch nicht vor Raubkopien haltgemacht. Ein Urheberrecht gab es Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht. Erst im Zuge vermehrt aufkommender Raubkopien machte man sich über den Schutz der Bildrechte Gedanken. 1862 wurde das britische Kopiergesetz verabschiedet, das den Schutz des geistigen Eigentums regelte.
Die Beliebtheit der Fotokarten machten sich Vertreter:innen von Adel und Politik zunutze und setzten sie zur Imagepflege ein. Es lassen sich zum Beispiel unter den Bildnissen von Staatsmännern zwei Porträtauffassungen ausmachen:
Zum einen entwickelte sich ein Bildtypus des offiziellen Repräsentationsporträts heraus. Dabei ließen sich Staatsmänner in sachlichem Habitus darstellen.
Daneben entstanden aber auch scheinbar private Porträts, auf denen sich die Fotografierten — zumeist umringt von Familienmitgliedern oder Kindern zeigten. Dies sollte die eigene Beliebtheit steigern. Kaiser Wilhelm II. war bekannt für seine geschickte Selbstinszenierung im Bild.
Nicht nur die Selbstdarstellung war ein Ausdruck der politischen Macht. Auch das Sammeln der Bildnisse anderer Adelsmitglieder oder berühmter Persönlichkeiten war Teil der Repräsentationskultur. Denn die gesammelten Errungenschaften geben Auskunft über die eigenen sozialen Netzwerke oder gelten als Ausweis der Wissbegierde. Dies prägte auch bürgerliche Gesellschaftsschichten.
Das Fotoalbum
Um die beliebten Fotokarten zu sammeln, ordnen und aufzubewahren, nutzte man zunächst Rahmen und Schatullen. Um 1860 kamen wegen der Beliebtheit der normierten Fotokarten die ersten Fotoalben auf.
Fotoalben waren oftmals aufwändig gestaltet. Die Einbände waren aus Leder, Samt oder Holz. Die Verschlüsse wurden kunstvoll mit filigranen Messingbeschlägen versehen.
Das Fotoalbum war fester Bestandteil der adeligen wie bürgerlichen Wohnungseinrichtung. Die gesammelten Fotografien von Freunden, Verwandten oder auch der verehrten Prominenz wurden darin aufbewahrt und stolz dem Besuch gezeigt. Schließlich galt das Album als Beleg sozialer Beziehungen.
Fun Fact
Die ersten Fotoalben wurden so gestaltet, dass man die Fotos nicht einkleben musste. Je nach Format (carte-de-visite oder Kabinettkarte) konnte das Foto durch schmale Schlitze in entsprechend groß ausgestanzte Fenster eingeschoben werden. Sie konnten also jederzeit wieder entnommen werden.
So manch akribische:r Sammler:in fertigte aber auch ganze Sammelalben zu einem Idol an...
Marie Charlotte Cäcilie Geistinger war eine österreichische Schauspielerin und Opernsängerin, die vom Publikum als „Die Königin der Operette“ gefeiert wurde.
„Zur Erinnerung an“ — private Botschaften
Kabinettkarten wurden nicht nur gesammelt und getauscht. Sie dienten auch der privaten Kommunikation. So finden sich ab und an auf der Vorder- oder Rückseite Handschriften mit persönlichen Botschaften.
„Als Braut in meinem ersten Ballkleid"
„Möge euch das Bild stets angenehm an Eure dankbare Ella erinnern, Wien 16.8.1903“
„Für Herrn (Name) zur freundlichen Erinnerung an den angenehmen Aufenthalt in Marcinkowice, Rotterdam 12. Dez. 1897"
„In Erinnerung an die schönen Tage in Portorose 15. Juli — 23. August 1897 und an die noch schöneren in Graz 18. Oktober — 1. November 1897, (Name) 16. XI. 1897“
„Aus einer Zeit ohne Dich. Deine Luise, 1920“
„Fröhliche Weihnachten und innige Grüße von deiner treuen alten Lotte, 21. 12. 1906“
Zur Erinnerung an die Tournée 28/7 — 12/8 1904, Dein dankender Theodor Wolle
Fun Fact
Das fotografische Bild wird wegen seiner Abbildfunktion von Beginn an eng mit Erinnerung und Andenken verknüpft. Und so konnte man sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts an touristischen Zentren fotografieren lassen und als Andenken personalisierte Ansichtskarten anfertigen lassen.

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Bilder
machen Leute
Bilder
machen Leute
Mit der industriellen Revolution entstand im 19. Jahrhundert eine neue Gesellschaftsschicht: das Bürgertum. Das Streben nach Anerkennung und Prestige führte zu dem Wunsch, die eigene individuelle Existenz im Bild festzuhalten. Die Fotografie als schnelles und preiswertes Verfahren kam gerade gelegen.
Die kleinen, preiswerten Fotokarten waren gängiges Produkt im Fotoatelier und trugen allmählich zur Verbreitung der Fotografie bei.
Das fotografische Porträt entwickelte sich von einem Mittel der Selbstdarstellung der aristokratischen Herrscherschicht zu einem Medium der bürgerlichen Gesellschaftsschichten. Der Wunsch des aufsteigenden Bürgertums nach eigenen Bildnissen und einer fotografischen Selbstwahrnehmung erfüllte sich. Das Sich-Porträtieren-lassen wurde bürgerliches Ritual und Alltagsphänomen.
Aus Mangel an eigenen Vorbildern griffen die Fotograf:innen bei der Inszenierung der Fotos auf Darstellungsformen des Adels zurück. Diese hatten sich aus der jahrhundertealten Tradition der Porträtmalerei entwickelt. Indem man die gleichen Bilder beanspruchte, wurde zwischen Adel und Bürgertum eine symbolische Gleichheit hergestellt.
Die handlichen Fotokarten waren gegenüber gemalten Porträts oder Daguerreotypien wesentlich kostengünstiger. So konnte sich auch der Käufer:innenkreis erweitern. Eine immer breitere Bevölkerungsschicht fand in der Fotografie ein Mittel der Selbstdarstellung. In den 1860er bis 1880er Jahren konnte sich ein großer Teil der Bevölkerung den Gang zu Fotograf:innen nicht leisten. Von den neuen Privilegien profitierte zunächst einmal nur das Groß- und Kleinbürgertum. Die Arbeiter:innenschaft war davon noch ausgeschlossen.
Die Inszenierungen in den Bildnissen spiegeln zum Teil bürgerliche Denkstrukturen wider. So teilte man das Leben in verschiedene Phasen, die mit gesellschaftlichen oder familiären Ereignissen und Zeremonien verknüpft waren. Im Porträt wurden — damals wie heute — wichtige Zäsuren des Lebens festgehalten. Anlässlich Taufe, Einschulung, Kommunion oder Konfirmation, der Hochzeitsfeier oder deren Jubiläen gingen Kund:innen ins Fotoatelier, um diese Momente im Bild festzuhalten.
Normierung fotografischer Praxis
Normierung und Standardisierung beeinflussten nicht nur das Format, sondern auch Arbeitsmittel und Ästhetik. Aus der handwerklich geprägten Herstellung fotografischer Bilder wurde allmählich ein industrialisierter Prozess. Glasplatten, Papiere und Zubehöre entstanden fortan in Fabriken. Auch für die Atelierausstattung entwickelte sich ein Fachhandel. Fotografie wurde erstmals zur Industrie- und Massenware.
Das Porträt verlor durch die standardisierte Herstellung der Fotokarten an künstlerischem Ausdruck und Individualität. Sie wurden zu Tausenden hergestellt. Kritiker:innen werten dies als Beginn des Verfalls der Fotografie.
„Darin liegt der Ruhm der Fotografie. Sie winkt mit dem Reiz des Schaufensters, setzt einen miesen Namen unter eine miese Visage, die mit einem billigen Verfahren hergestellt wurde, wenn das kein Glück ist! Die Wonne der selbstgerechten Eigenliebe.“
Barbey d’Aurevilly, (franz. Schriftsteller und Moralist), 1867
In der Atelierfotografie des 19. Jahrhunderts entwickeln sich Bildformeln, die zum Teil modischen Trends unterworfen waren. Es etablieren sich feste Regeln, die international zur Norm wurden. Sie wurden tausendfach wiederholt. Die Folgen: wenig Originalität, ein regelhafter Bildaufbau und die ewiggleichen Posen. Nur wenige Fotograf:innen gaben ihren Arbeiten eine persönliche Note und ragten mit ihren Bildern aus der allgemeinen Monotonie hervor.
Monotonie, Banalität, Uniformität. Diese Bilder sind wenig originell.
Der Wunsch der bürgerlichen Gesellschaft nach Individualität mündete in scheinbar charakterlosen Bildern, die lediglich einen bürgerlichen Typus hervorbrachten. Die Persönlichkeit der Porträtierten verschwand hinter einer stereotypen Darstellung.


Musterseiten, aus einem Vorlagealbum des Fotografen H. Willimec aus Suderode, Provinz Sachsen, 1861/1862 © Rheinisches Bildarchiv Köln
Fun Fact
Während Kund:innen im Fotoatelier warteten, bekamen sie die Möglichkeit, vor der Aufnahme in sogenannten Muster- oder Vorlagebüchern zu blättern und sich für die eigene Pose inspirieren zu lassen.
Posen und Arrangements
Die Darstellungsformen fotografischer Bildnisse unterlagen verschiedenen Trends und Moden. War es zunächst üblich, bestimmte Bildausschnitte (Brustbild, Kniestück, Halbfigur, Ganzfigur) vor neutralem Hintergrund von sich zu machen, folgten später räumliche Inszenierungen im Atelierraum in aufwändig gestalteten Kulissen.
Fun Fact
Derartige gestalterische Trends kamen auf, um Käufer:innen das immer gleiche Produkt attraktiv erscheinen zu lassen. Die ästhetisierte Aufmachung änderte sich, um den Tauschwert der Kabinettkarte zu erhöhen. Bis heute haben sich Neuerungen des Produktdesigns als Marketingstrategie bei unzähligen Konsumgütern gehalten.
Eines änderte sich jedoch kaum: Die Pose sollte natürlich, aufrecht und selbstsicher sein. Ziel war es Selbstbeherrschung zu vermitteln. Emotionsäußerungen galt es zu vermeiden. Das war gesellschaftliche Etikette. Nur bei den kleinen Kindern wurde eine Ausnahme gemacht.
„Und jetzt einmal Cheeeese...“, sagen Fotograf:innen heute, damit die richtige Stimmung für die Aufnahme aufkommt. Auch im 19. Jahrhundert soll es ein entsprechendes Stichwort gegeben haben...
Kinderfotografie
Besonders beliebt waren Aufnahmen von Kindern. Man schickte sie ins Fotoatelier, um ihre Entwicklung im Bild festzuhalten und Familienerinnerungen zu schaffen.
Kinder wurden erst ab dem sechsten Lebensjahr geschlechtsspezifisch gekleidet, oder trugen Attribute bei sich, die auf ihre künftige Geschlechterrolle verwiesen. So sollten sie auch im Bild präsentiert werden.
Fun Fact
Die Kinderfotografie gilt als Spezialität, denn es bedarf besonderen Fingerspitzengefühls die Kinder für die sekundenlange Belichtung ruhig und in Pose zu halten. Um die Kleinsten zu fotografieren, behalfen sich die Fotograf:innen mit verschiedenen Tricks...
Status ist alles
Die Inszenierung folgte oftmals den geschlechtsspezifischen Rollen- und Moralvorstellungen der Zeit. Oder sie spiegelten bürgerliche Tugenden wider. Diesen Darstellungen ist aber nicht ohne weiteres zu trauen.
Es gibt unzählige Darstellungen der lesenden Frau. Das Buch gilt als ein Symbol bürgerlicher Tugend. Dabei hatten die wenigsten Menschen Zugang zu Büchern. Bildung und Belesenheit sollte im Bild dennoch vermittelt werden.
Der Mann wurde in Familienbildnissen meist als Familienoberhaupt inszeniert. Er präsentierte sich als dominante Figur, der die Hoheit über die kleinste gesellschaftliche Einheit — die Familie — hat. Er, der Mann, steht in der Hierarchie oben und sichert die Existenz der Familie. Das sollte auch im Bild sichtbar werden.

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Das Fotoatelier
im 19. Jahrhundert
Das Fotoatelier
im 19. Jahrhundert
Um 1840 eröffneten die ersten Fotostudios in Europa und den USA. Schnell wurden sie zu beliebten gesellschaftlichen Treffpunkten, an denen das zunächst einmalige Erlebnis des Fotografiert-Werdens in kurzer Zeit zur alltäglichen Praxis avancierte.
Die ersten Fotoateliers ließen sich in Metropolen nieder, stets an Hauptverkehrspunkten, in der Nähe des pulsierenden Lebens. In den 1860er-Jahren war die Konkurrenz in den Großstädten bereits so groß, dass sich die Fotoateliers wie Perlen in den Straßenzügen aneinanderreihten.
Mit der Möglichkeit der preisgünstigen Vervielfältigung fotografischer Bilder schossen Fotoateliers wie Pilze aus dem Boden. Waren es 1851 in London nur zwölf Ateliers, gab es 1855 bereits 50 und 1860 etwa 200 gewerbetreibende Fotograf:innen.

In Bezug auf Größe, Ausstattung und Programm reichte die Bandbreite der Fotoateliers von kleinen Einraum-Ateliers bis zu luxuriös eingerichteten Salons mit mehreren Mitarbeiter:innen und ausladenden Räumlichkeiten mit separatem Empfangsbereich, Wartesalon, Aufnahmebereichen und Labor.
Elementar war hingegen der nach Norden orientierte Aufbau mit Glasdach und -fassade. Schließlich war die Gesellschaft bis zur Verbreitung des elektrischen Lichts noch auf Tageslicht angewiesen. Waren die Lichtverhältnisse schlecht, konnte nicht fotografiert werden.

Die Ausstattung der Ateliers folgte Modeströmungen. In den 1860er Jahren waren sie noch mit Gebrauchsmöbeln ausgestattet. Mit Beginn der 1870er Jahre tauchen hingegen seriell gefertigte Ausstattungsstücke auf. Die Inhaber:innen nutzten aufwändig gemalte Kulissen, Requisiten aus Pappmaché oder Draperien sowie Pflanzen oder Bücher, um die Kundschaft in Szene zu setzen.
Das beliebteste Dekorationsstück war ein kleiner Tisch, auf dem sich die Kund:innen während der Belichtungszeit anlehnen oder abstützen konnten. Das half dabei, die Aufnahme nicht zu verwackeln.
Fun Fact
Die Tische und Stühle in den Fotoateliers waren meist höhenverstellbar. So konnten sie der Größe des Modells entsprechend eingestellt werden.
Schon die kleinste Bewegung während der sekundenlangen Belichtungszeit führt zu einer verwackelten Aufnahme. Daher befand sich bis ins 20. Jahrhundert vermutlich in jedem Atelier ein Kopf- oder Körperhalter. Das waren Apparaturen, die der porträtierten Person halfen, den Körper und insbesondere den Kopf während der Aufnahme zu stützen. Auf dem Foto blieb die Apparatur jedoch unsichtbar.

Besonders wichtig für den Kulissenaufbau waren die Hintergründe. Während Fotograf:innen zunächst neutrale, einfarbige Hintergründe benutzten, kamen in den 1870er Jahren gemalte Variationen mit Landschaften, Parkszenen oder Architekturelementen auf. Oftmals besaßen Ateliers gleich mehrere Varianten, die als mobile Stelllagen — je nach Geschmack der Kund:innenschaft — zum Einsatz kommen konnten.
Die Atelierausstattung diente als Kulisse der Porträtaufnahme. Sie sollte als solche im Bild nicht sichtbar sein. Trotz aller Bemühungen der Fotograf:innen sind gelegentlich Dinge zu sehen, die eigentlich verborgen bleiben sollten. Schauen Sie einmal genauer hin. Was fällt Ihnen auf?
Die mitunter aufwändige Atelierausstattung imitierte klein- oder großbürgerliches Wohnen. Mit der typischen Einrichtung der Kund:innenschaft hatte sie in der Regel wenig gemeinsam.

Neben Salon und Aufnahmebereich besaß jedes Atelier ein Labor. Hier wurden die Platten vorbereitet, Abzüge erstellt und Fotografien retuschiert oder koloriert.
Frauenberuf: Fotografie
Aus der frühen Fotografiegeschichte sind meist männliche Fotografen bekannt. Nichtsdestotrotz arbeiteten im 19. Jahrhundert auch Frauen im Fotoatelier und übten den Beruf der Fotografin aus. Die meisten von ihnen blieben jedoch anonym.
Ab Ende der 1850er-Jahre übten Frauen meist assistierende Tätigkeit aus, zum Beispiel als:
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Kopist:innen erstellen Abzüge von den Negativbildern.
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Die Retoucheure:Retoucheusinnen beschäftigen sich mit der Retusche der Fotografien.
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Operateur:innen leiten die Aufnahme an, damit verbunden z. T. auch: Beleuchtung, Aufnahmearrangement, Bedienung der Kamera.
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Empfangsdamen übernahmen die Kund:innenbetreuung und z. T. auch Bürotätigkeiten und Buchführung. Hierbei handelt es sich um einen ausschließlich von Frauen ausgeübter Beruf.
Frauen betrieben selten ein eigenes Atelier, sie agierten häufiger als Mitarbeiterinnen in von Männern geführten Ateliers. Sie arbeiteten nicht unter ihrem eigenen Namen und traten daher auch nicht sichtbar in die Öffentlichkeit. Dazu zählen z. B. Ehefrauen von Atelierbetreibern, die nach dem Tod ihrer Gatten das Geschäft weiterführten.
Es gab jedoch auch renommierte von Frauen geführte Betriebe, die nationale Bekanntheit genossen. Einige von ihnen wurden in Wettbewerben prämiert und erarbeiteten sich die Auszeichnung „Hoffotografin“. Sie standen ihren männlichen Kollegen also in nichts nach. Unter ihnen waren...
Anita Augspurg
Laura Bette
Emilie Bieber
Johanne Birkedahl
Julia Margret Cameron
Katharina Culie
Anna Dencken
Sophia Doudstikker
Bertha Eysolt
Charlotte Frank
Adele Köttgen
Stephanie Ludwig
Maria Mertens
Adele Perlmutter
Emma Plank
Evelin Schulz
Bertha Wehnert-Beckmann
Emilie Vogelsang
Fun Fact
Zum Schutz vor Benachteiligung und Diskriminierung griffen Fotografinnen bei der Wahl des Ateliernamens oftmals auf Abkürzungen oder Phantasienamen zurück. So arbeitete Katharina Culie meist unter dem Namen K. Culie, und die Fotografin Stephanie Ludwig betrieb das Atelier Veritas.
Die Rückseite als Werbestrategie
Wegen der großen Konkurrenz war es wichtig, die eigenen Arbeiten zu kennzeichnen. Dies erfolgte zunächst durch namentliche Nennung und Adresszusatz auf der Vorderseite der Fotokarten. Allmählich wurden auch die Rückseiten zur Selbstdarstellung oder als Werbemittel der Atelierbetreiber:innen genutzt.
Neben den Atelierangaben warben die Inhaber:innen mit Ehrungen und Auszeichnungen oder der Auflistung verschiedener Niederlassungen, um die eigenen Leistungen und Aktivitäten hervorzuheben.
Die Rückseite wurde als Werbefläche genutzt, mit Angaben zu Öffnungszeiten, Preisen oder speziellen Angeboten wie Kinderaufnahmen.
Hinzukamen kunstvoll gestaltete Illustrationen als Ausdruck des künstlerischen Selbstverständnisses der Fotograf:innen. Sie verwiesen zumeist auf ihren Kunstcharakter, indem beispielsweise Malrequisiten oder Musen und Putti — zumeist künstlerisch tätig — abgebildet wurden.
Fun Fact
Auf einigen Karten ist „nur bei gutem Wetter“ zu lesen. Da elektrisches Licht noch nicht erfunden oder noch nicht für jede:n zugänglich war, konnte nur bei guten Lichtverhältnissen fotografiert werden. Ein wolkenverhangener Himmel machte so mancher Porträtsitzung einen Strich durch die Rechnung. Wetterunabhängig wurden Fotograf:innen erst mit der allmählichen Verbreitung des elektrischen Lichts.